So weit die Füsse tragen - Teil 4


Hotte, der King of Vorstadt, erlebt Skurriles bis Alltägliches in einer Nacht voller Hindernisse.
Onkel Meias Alter Ego kämpft sich durch den Wahnsinn einer entfremdeten Welt...

hier gehts zurück zu Teil 1

hier gehts zurück zu Teil 2

hier gehts zurück zu Teil 3

Erfüllt von dem Gefühl einen wichtigen Sieg errungen zu haben, ging es sich deutlich leichter und er nahm beschwingt den letzten Kilometer des Weges zu seiner Behausung in Angriff. Seine Schritte wurden immer schneller, er lief fast, beeilte sich, ein nahes Ziel vor Augen. Der Asphalt unter ihm verschwamm, bewegte sich so schnell wie ein Laufband auf Höchstgeschwindigkeit, und er fühlte förmlich die Beschleunigung, wie sich die Distanz rasant Meter für Meter verringerte.

In dem Maß wie das Gefühl des Sieges sekündlich schwand und ersetzt wurde von der Vorfreude auf ein Bett, dass ihm Schutz und Sicherheit bot, steigerte sich auch die Wirkung des Alkohols erneut. Ohne dass es ihm richtig bewusst wurde, begann das Torkeln erneut Herrschaft über seine Beinbewegungen zu gewinnen, im Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Außerdem, was er nicht merken konnte, da er nicht sprach, reduzierte sich seine Stimme auf ein unkontrolliertes Lallen. Das Gefühl im Magen verstärkte sich rasch zu einem heftigen Unwohlsein, hart an der Grenze zu Magenschmerzen, er nahm an, dass dies eine Ursache der beginnenden Lähmung seiner Beinmuskulatur und den immer unsicher werdenden Schritt wäre, und war sich sicher, etwas Falsches oder Verdorbenes gegessen zu haben. Er glaubte mit leeren Magen schneller und zielstrebiger zu gehen, der Nahrungsumwandler schrie nach einer Erleichterung und vor ihm wurde, an einem Pfahl befestigt, ein Mülleimer sichtbar.

Ohne lange nachzudenken wählte er diesen als nächstes Ziel und steckte, sobald er erreicht war, seinen Kopf tief hinein. Aus nächster Nähe betrachtete er eine zerbeulte Getränkedose, eine Zeitung, deren Schlagzeile schon mehrere Tage alt war nebst einer schimmeligen Bananenschale und einige undefinierbare Gegenstände. Diese strömten einen Geruch aus, der von seiner Nase aufgenommen, im Gehirn analysiert wurde und sein Unwohlsein noch verstärkte. Er würgte, öffnete den Mund und hoffte, dass sich der Magen entleerte, um völlig frei von belastendem Inventar fördernde Auswirkungen auf den Rest des Körpers zu haben. Doch anscheinend sah das Verdauungsorgan dessen Inhalt als festen und untrennbaren Privatbesitz an, wollte sich nicht davon befreien, und, obwohl er einige Minuten auf eine entsprechende Reaktion wartete, tropfte nichts als etwas Speichel auf den darunterliegenden Unrat. Enttäuscht, angesichts des Unwillens seines Magens sich vom unnötigen Inhalt zu lösen, stellte er seine Bemühungen ein, auch bewog ihn der Wunsch, nicht den Rest der Nacht in einer unwürdigen Stellung zu verharren. Mit einer ruckartigen Bewegung zog er den Kopf aus dem geruchsbelastetem Behältnis. Er richtete sich auf, stieß sich dabei schmerzhaft den Kopf am Mülltonnenrand. Offensichtlich war die Bewegung zu hastig gewesen, und eine kleine, sofort von einem minimalen Blutaustritt gekennzeichnete Platzwunde war die Folge. Aber das belastete ihn nicht, der Alkohol unterdrückte jedweden minimalen Schmerz und er sah, nur noch wenige hundert Meter entfernt, die dunkle Fensterhöhle seiner Wohnung.

Hotte freute sich, dass diese nicht rußummalt war und keine Feuerwehr das Haus belagerte, die Wohnung also äußerlich intakt erschien und er nichts Brennendes achtlos vergessen hatte. Der Anblick motivierte ihn trotz aller Störungen auch den Rest des Weges zu schaffen, egal was noch an Missgeschicken auf ihn wartete. Das Nächste folgte prompt. Wie vorher erlebt, näherte sich ihm eine Häuserwand in beängstigender Geschwindigkeit, er steuerte dagegen, änderte die Richtung und die Wand fand Ersatz in einem Bordstein mit dahinterliegender verlassener Straße. Leider gelang es ihm nicht, hier erneut rechtzeitig auszuweichen. Es fehlten anscheinend die nötigen Zentimeter, ein halber Schritt vielleicht, um diese Aktion zu einem Erfolg zu machen. Anstatt sich wie erhofft in Gegenrichtung zu bewegen, hatte er plötzlich das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen hinfortgezogen. Ihm gelang noch eine halbe Drehung seines Körpers, dann fiel er auf die zum Glück nicht verkehrsbelastete Fahrbahn.

Er prallte hart auf, spürte den Asphalt unter sich, aber nicht die Schürfwunde auf seiner linken Wange, und dass von Kopf bis fuß Flecken sein Äußeres verschmutzten. Etwas benommen richtete er sich auf. "Ich muss nach Hause…", dachte er, sein Mund artikulierte gleichzeitig "Isch musch nasch Hausch", aber er hörte nicht auf den Klang seiner Stimme und die befremdlichen Laute die diese produzierte. Er beschloss für die letzten Meter auf der Fahrbahn zu bleiben, sie erschien breiter, gefahrloser als der Gehweg, der ihn aufgrund seiner Dimensionen wie das Betätigungsfeld eines Seiltänzer vorkam, außerdem war die Straße ebenso leer wie der Passantengrat und damit benutzbar.

Überraschenderweise verringerte sich die Seitwärtsbewegung, der Bordstein kam nur geringfügig und das deutlich langsamer näher. Schritt für schritt kämpfte er sich voran, in dem Wissen, seinem Ziel sehr nah zu sein. Plötzlich sah er sich umwogt von Licht. "Verlassen sie bitte die Fahrbahn..", herrschte ihn eine Lautsprecherstimme herrisch an. Er drehte sich um, konnte - aber da er von den Scheinwerfern geblendet war - nur ein Auto hinter ihm erkennen, nicht um was für eines es sich handelte. Da Autos auf der Fahrbahn größere Rechte hatten als er, tat er, wie ihm geheißen, ohne Murren, ohne Klagen und so schnell wie er konnte, denn das sah er ein. Allerdings erschien ihm die Bordsteinkante höher als sonst, der Abstand gewaltiger, fast wie eine Klippe in der Normandie, und er glaubte nicht, diese mit einem Schritt bewältigen zu können. Trotzdem versuchte er es, hob ein Bein und blieb prompt bei einer Bewegung nach vorne mit der Sohle des Stiefels an der Oberkante hängen und schlug der Länge nach hin. Erneut prallte er hart auf, verletzte und beschmutzte sich unmerklich.

Während er auf dem Boden lag und um Orientierung rang, erschienen hellbraunbehoste Beine neben ihm. "Wie sieht der denn aus?", fragte eine Stimme. "Isch schähe immhhhhhha scho auschsch!", antwortete Hotte. "Und wo wollen Sie hin?". "Nasch Schausche!", erwiderte er überzeugt. "Man hat der ne Fahne, der Typ ist ja volltrunken...", informierte der zuvorderst stehende Polizist seinen im Wagen warteten Kollegen. "Den nehmen wir besser mal mit.". Hotte, der sich inzwischen mühsam aufgerichtet hatte, fühlte sich am Kragen gepackt und Richtung Wagen gezerrt. Die grobe Behandlung registrierte er nur am Rand, schließlich wollte er nur nach Hause und den Schlaf des Gerechten schlafen. Wieder fiel er, diesmal als Folge eines kräftigen Stoßes und diesmal in Richtung einer Rückbank. Er rechnete mit einer sanften Landung, aber sie wurde weitaus sanfter als erwartet, die Weichheit der Unterlage überraschte ihn. Augenblicklich dachte er wieder an Schlaf, fühlte sich plötzlich unendlich müde, rollte sich unbewußt zusammen. "Jetzt fahren die mich nach Hause!", dachte er freudig, ehe ihn die Müdigkeit übermannte…..

Als er erwachte war er nach einigen Sekunden der Trunkenheit des Schlafs erstaunlich klar, die Wirkung des Alkohols verschwunden. Das erste was er sah, waren scheinbar mit Bleistift geschriebene Buchstaben, die gelesen ein "Ich war hier!" ergaben, angebracht auf einer weißgetünchten Wand. Hotte dachte einige Minuten nach. Abgesehen von der Tatsache, dass keine Wand seiner Wohnung weiß gehalten war (für ihn war dies keine Farbe, sondern ein Zustand), wäre er nie auf die Idee gekommen, eine Wand mit derart sinnlosen und informationsleeren Worten zu verschandeln. Also konnte dies nicht sein Zuhause sein. Erschrocken fuhr er hoch und schaute sich um. Alle Wände des kleinen Raumes waren in weiß gehalten, vereinzelt mit verschmierten Zeichnungen bedeckt und die Tür bestand aus Metall, hatte innen keinen Griff und als einzige Zier ein kleines, vergittertes Guckloch. Das gepolsterte Brett, auf dem er die letzten Stunden verbracht und süß von dornigen Abgründen, einstürzenden Hochhäusern und joghurtessenden Polizisten geträumt hatte, war das einzige Möbelstück im gesamten Raum und an der Wand hochziehbar.

Da seine Wohnung anders eingerichtet war, nicht so extrem spartanisch, erinnerte ihn nichts an diese, eher an die Zelle einer Polizeiwache. Just in diesem Moment erschien ein Augenpaar vor dem Guckloch und er hörte eine tiefe Stimme. "So, der ist jetzt auch wach!", sagte der Sprecher. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür wurde geöffnet und ein älterer, uniformierter Mann hielt ihm dieselbe auf. "Sie können jetzt gehen….", sang er einladend. Das ließ sich Hotte nicht zweimal sagen. Er erhob sich, stellte fest, dass das Liegen wie immer seine Gelenke etwas schwergängig machte und verließ den karg eingerichteten Ort. Ein Fingerzeig des Uniformierten wies ihm die Richtung und kurz darauf fand er sich an einer Art Tresen wieder. Hinter diesem saß ein deutlich jüngerer und ebenso durch seine Uniform als Polizist gekennzeichneter Mann, und blickte bei seinem Nahen von einer Schreibmaschine auf. Ein gezwirbelter Schnauzbart dominierte sein jungenhaftes Gesicht, wollte nicht zu ihm passen und wirkte wie angeklebt. "Hier ist Ihr Ausweis!", sagte der Bartträger und reichte ihm eine Karte, die Hottes Antlitz schmückte. "Sie können von Glück reden, dass wir Sie gefunden haben.", redete er weiter, "Was hätte da nicht alles passieren können, so hilflos wie Sie waren. Ebenso können Sie von Glück reden, dass noch eine Zelle frei war, sonst hätten wir sie festnehmen müssen….". Der Rest der mahnenden Worte verschwamm, wurde nur gehört, aber nicht verstanden, da er von einer gewaltigen Unruhe ergriffen wurde und diesen Ort so schnell wie möglich verlassen wollte. "Passen Sie gut auf sich auf!", rief der Beamte zum Abschluss, als Hotte die Eingangstür von innen aufstieß.

Gleißendes Sonnenlicht umgab ihn, umhüllte tastend seine zerlumpte Gestalt und er freute sich keinen weiteren Formalitäten ausgesetzt worden zu sein. "Also diesmal keine Anzeige, Glück gehabt!", grinste er. Schulkinder auf Fahrrädern, die durch auf den Rücken geschnallte Ranzen als solche zu erkennen waren, eilten an ihm vorbei, er sah die verlassen wirkende Front seiner Stammkneipe und erkannte, dass er an seinen Ausgangspunkt zurückversetzt war. Ein mit nur wenigen Fahrgästen gefüllter Bus fuhr Richtung Heimat. Einer plötzlichen Eingebung folgend, wühlte Hotte in seinen Hosentaschen, fand aber kein Geld. Offensichtlich hatte ihm niemand während seines Aufenthalts im Polizeiwagen oder in der Zelle heimlich ein Geschenk zugesteckt. Nicht, dass er eine Entwicklung dieser Art für wahrscheinlich hielt, aber eine geringe Möglichkeit hierzu bestand, auch wenn sie rein theoretischer Natur war. Er orientierte sich, schätzte die Lage ein. In Frage kam nur ein erneuter Fußmarsch.

"Also nochmal…", grinste Hotte.

The Meia

 

 

 

 

 

(FUCK YOU ALL!!! 3 Uhr morgens ist keine Uhrzeit für einen wirklich an Rock'n'Roll Interessierten)