Das Bild von einem Skin

Frank Kramer lebt in Guben, in Brandenburg. Er trägt Glatze, Springerstiefel und Bomberjacke - und er ist Lehrer

(wir möchten hier die Berliner Zeitung zitieren, in der dieser Artikel von Anette Heide am 21.6. erschienen ist)

GUBEN, im Juni. Als Kramer zum ersten Mal das Lehrerzimmer betrat, zogen einige Lehrer den Bauch ein, wollten sich dünn machen, ihn auf keinen Fall berühren. Als er durch die Flure der Schule ging, tuschelten die Schüler: "Der soll Lehrer sein?" Schüler mit dunkler Haut wichen vor Kramer zurück. Wenige Wochen später zeigte der Schuldirektor dem neuen Lehrer Briefe. Briefe von Eltern, die sich beschwerten, dass einer wie Kramer unterrichten darf. Dass er Angst verbreite. Dass einer wie er keinen guten Einfluss auf Kinder habe.

Ins Gesicht hat Kramer das niemand gesagt. Das war auch nicht nötig. Kramer weiß, wie er wirkt.

Frank Kramer ist vierundvierzig Jahre alt. Er unterrichtet Physik an der Europaschule in Guben und vertritt außerdem als Hauptpersonalratschef die Interessen der 28 000 Brandenburger Lehrer im Bildungsministerium des Landes. Kramer ist verheiratet, hat zwei Kinder, wohnt in einer Doppelhaushälfte und ist Skinhead. Ein linker Skinhead. Ein Oi-Skin, in der Tradition der englischen Arbeiterbewegung. Kein Bonehead, wie die linken die rechten Skinhead s nennen. Das macht allerdings erst mal keinen Unterschied. Glatze, Bomberjacke, Springerstiefel. Auf Kramers linken Oberarm ist das Wort "Oi" tätowiert, auf dem rechten das Wort "Skinhead".

Darf so der Bizeps eines Lehrers aussehen, vereidigt auf das Grundgesetz und die brandenburgische Landesverfassung? Darf es einen wie ihn geben? Einen Linken, der sich die Freiheit nimmt, wie ein Rechter auszusehen? Einen erwachsenen Mann, dem es gefällt, in einem Outfit herumzulaufen, das für viele Jugendliche zur zweifelhaften Mode geworden ist? Der dieses Aussehen auch noch einsetzt, um Gewalt zu bekämpfen?

In der Europaschule möchte man sich offiziell nicht zu Kramer äußern und im Bildungsministerium auch nicht. Er sei engagiert und kompetent, so lautet dort die Meinung, aber in internen Sitzungen heiße es schon mal, dass Kramer das "ästhetische Empfinden" der meisten störe. Manche Kollegen sagen: "Ich finde, er überzieht." Oder: "Diese grinsende Glatze." Oder: "Wir überlegen, Springerstiefel zu verbieten, und der läuft darin rum."

Vielleicht ist alles umso schlimmer, weil Kramer aus Guben kommt. Guben ist die Stadt an der Neiße, die erst durch die Ermordung des Algeriers Omar Ben Noui in die Schlagzeilen geriet und dann durch die fortwährende Schändung seines Gedenksteins. In Guben gibt es: kein Kino, kein McDonald s, kein Einkaufscenter mit Spielautomaten, nichts von dem, was Jugendliche mögen. Nur mittwochs ist manchmal was los. Da werden Jugendliche von NPD-Funktionären geschult und Aufkleber verteilt, die einen Tag später in der ganzen Stadt pappen und die die Antifa wieder abkratzt. Viele Konzepte sind in Guben gescheitert, und seit der letzte städtische Sozialarbeiter vor mehr als zweieinhalb Jahren seinen Posten aufgab, hat sich eigentlich niemand mehr um die Jugendlichen am rechten Rand gekümmert. Jetzt gibt es einen neuen Versuch. Mit Kramer.

Er ist ehrenamtlicher Vorsitzender des "Fördervereins für Jugendkultur und Jugendarbeit", der schon lange das alternative Jugendzentrum "No Budget" betreibt und vor einem Jahr den Jugendclub "Komet" von der Stadt Guben übernommen hat. Einen Club, in dem sich oft rechte Jugendliche aufhalten, wie viele Gubener meinen. Reden wollen die Jugendlichen dort nicht. Nicht über sich selbst und schon gar nicht über Kramer. Aber seit Kramer das Sagen hat, respektieren sie Verbote. Verfassungsfeindliche Symbole, verfassungsfeindliche Musik gibt es im "Komet" nicht mehr. An den Wänden hängen keine NPD-Plakate, sondern Poster des Pin-up-Girls "Bibi Blue" und der "Erotikmesse Cottbus". In den vergangenen Monaten haben die Jungs die verfallenen Räume sogar hergerichtet, die Wände gestrichen, eine Bar eingebaut. Vielleicht ist das ein Anfang.

Guben ist auch die Stadt, in der Kramer sich als Skinhead zu erkennen gab. Es war im Februar 1999. Kramer war schon seit Jahren Skinhead , rasierte sich den Schädel, aber die Stiefel versteckte er vor der Öffentlichkeit. In Guben gab er den Motorradfahrer, trug Lederkluft und Jeans, aus Rücksicht auf die Frau und die Kinder, bis der Februar 1999 kam. Kramers machten Urlaub an der Nordsee. Auf der Rückfahrt hörten sie einen Radiobericht über die Hetzjagd, die zum Tod des Algeriers Omar Ben Noui geführt hatte. Die Familie kehrte in eine Stadt zurück, in der ein Mord geschehen war. Kramer beschloss sein Coming-out.

Von nun an kleidete er sich auch in Guben so, wie er sich in Berlin und in Potsdam kleidete. Auch bei dem Trauergottesdienst für Omar Ben Noui. Er setzte sich in die siebtletzte Reihe der Kirche. Auf der Empore filmte das Fernsehen, vorne beschuldigte der Landrat die Eltern der Gubener Jugend, die Bedeutung von Springerstiefeln zu ignorieren, die Gubener gingen zum Altar und entzündeten Gedenkkerzen. Kramer erhob sich. Er trug Springerstiefel, Bomberjacke, Glatze. "Der Landrat verurteilt eine Person wie mich, und die geht dann mit einer Kerze in der Hand durch die Kirche", sagt Kramer. Er ist noch heute überzeugt davon, dass es richtig war, zu zeigen, dass es nicht das Aussehen ist, welches Jugendliche zu Rassismus und Verbrechen treibt.

Hat jemand deshalb das Recht, auf einer Trauerfeier die Gefühle der Hinterbliebenen zu verletzen?

Pfarrer Domke hat damals den Gottesdienst geleitet, aber er erinnert sich nicht an Kramers Auftritt. "Mag sein, dass er eine Kerze entzündet hat, das haben ja viele Leute getan", sagt Domke. "Aber ob er eine Bomberjacke trug, das weiß ich nicht." War der Auftritt vielleicht nicht so spektakulär? "Ich kenne Frank Kramer und ich wundere mich über seine Glatzigkeit. Aber sein Blick auf die Jugend hier hat etwas Offenes, das anderen fehlt."

Kramer sitzt zu Hause in einem Korbsessel in seinem Arbeitszimmer und trinkt Kaffee. Er serviert Ingwerplätzchen, auf seinem Schreibtisch steht ein Aktenkoffer, aus dem CD-Player hämmert Punk. Hier liegen die Schnittstellen zu Kramers Welten offen. Blümchenmuster auf der Kaffeetasse neben Pitbull-Aufklebern. Pädagogische Aufsätze neben Skinhead-Flyern. An diesem Ort versucht Kramer, Vorurteile zu bekämpfen.

"Skinhead sein, heißt nicht nur Grölen und Saufen", sagt er, "sondern füreinander eintreten, der Unterschicht angehören, für die Schwachen kämpfen." Das klingt nach Robin Hood mit Glatze. "Klischee hin oder her, ich empfinde das so. Außerdem sind linke Skinhead s, von denen es in Deutschland vielleicht zwanzigtausend gibt, nicht kriminell", sagt Kramer. Er ist es gewohnt, angegriffen zu werden.

Und dann ist da noch eine Sache. "Als Skinhead will man auffallen, nicht stinknormal sein", sagt Kramer. "Ich sehe martialisch aus, das ist gewollt. Die Gewalt des Äußeren gefällt mir, weil sie aufrüttelt."

Vor knapp einem Jahr stand Kramer auf dem Bahnsteig in Cottbus und wartete auf den Zug nach Potsdam. In seiner Nähe warteten ein Schwarzafrikaner und seine schwangere Freundin. Plötzlich erschienen drei betrunkene Skinheads, zwei Jungen, ein Mädchen. Sie umringten das Paar. "Du Hure, kriegst n Kind von einem aus dem Busch", sagte das Mädchen und stieß die Frau gegen die Schulter. Der Zug fuhr ein. "Wie lange können Sie den Zug aufhalten?", fragte Kramer den Schaffner. "Zwei Minuten." "Gut, rufen Sie die Polizei." Er ging zu den Skinhead s, fünfzehn Meter, sehr lange fünfzehn Meter. Weil Kramer nichts anderes einfiel, sagte er erst mal: "Kameraden, wie behandelt ihr deutsche Frauen?" Das reichte. Die Skinhead s wandten sich ihm irritiert zu. "Was willst du denn, bist du keiner von uns?", fragte einer. Das Paar floh, kurz darauf war die Polizei da und nahm die Jugendlichen mit. Kramer stieg in den Zug. Ein Held will er nicht sein.

Man kann das Zivilcourage nennen oder Opportunismus, aber das Paar konnte fliehen. In der Straßenbahn in Cottbus griff Kramer ein, als Ausländer einen Jugendlichen schlagen wollten, weil er rechte Symbole auf der Bomberjacke trug. Kramer sagt: "Ich würde jedem helfen, der unten liegt. Egal ob Che Guevara oder eine schwarz-weiß-rote Fahne auf dem Arm ist."

Kramer ist einer der wenigen in Deutschland, die älter als dreißig sind und sich zur Skinhead bewegung bekennen. Er kennt noch einen Richter, der Springerstiefel unter der Robe trägt, einen Ministerialrat, ein paar Sozialarbeiter, einige Intellektuelle. Kramer zieht ein Fotoalbum aus dem Regal und zeigt Bilder. Skinheads mit Bier in der Hand an der Tankstelle, auf dem Weg zu einem Konzert. Tätowierte. Skinhead s beim Pogo-Tanzen. Lauter junge Menschen. Kramer sagt, er hole nichts nach, er nehme sich einfach heraus, verrückt auszusehen. Seine Frau und seine Kinder finden das in Ordnung. Aber reden wollen sie darüber nicht.

Vielleicht muss Kramer sich auch ständig vergewissern, nicht wieder auf der Seite der Angepassten zu stehen. Aufgewachsen ist er bei seinen Großeltern in der Nähe von Magdeburg. Dorthin hatte ihn im November 1956 seine Mutter geschickt. Sie lebte ein wildes Leben in Düsseldorf, einen sechs Monate alten Säugling konnte sie da nicht gebrauchen. Wer sein Vater ist, weiß Kramer nicht. Der Großeltern zogen den Jungen groß, am Küchenschrank hing ein Foto von Willy Brandt. "Opa hat immer gesagt: Du musst im System versuchen, das System besser zu machen." Nach dem Studium wurde der junge Lehrer nach Guben geschickt. Er trat in die SED ein, wurde stellvertretender Schulleiter, im September 1988 Schulleiter. "Ab da hatte ich das Gefühl, mir bleibt keine Nische", sagt Kramer. "Ich durfte nicht sagen, was ich wollte, meine Reden an die Lehrer waren vorgeschrieben." Im Juni 1989 legte er sein Amt nieder, wurde an eine Dorfschule versetzt, im September trat er aus der SED aus.

Die Wende kam, und Kramer machte sich auf die Suche nach dem verlorenen gegangenen Sinn. Er belegte Seminare über Montessori und Rudolf Steiner, hospitierte an einer Waldorf-Schule, hörte Referate von Ursula Engelen-Käfer und begann mit Gewerkschaftsarbeit. Drei Jahre später wurde er zum Hauptpersonalratschef in Potsdam gewählt. Aber zwischen den Beamten auf den Ministeriumsfluren suchte Kramer vergebens eine Antwort auf die Frage: Was ist Leben? Kramer trieb sich nachts auf den Straßen von Potsdam herum. Und fand Heimat in der Subkultur der linken Punks und Skinheads.

Wenn es nach Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm ginge, dann dürfte Lehrer Kramer nicht mehr so herumlaufen. Das Bildungsministerium des Landes denkt darüber nach, Springerstiefel und Bomberjacken an Schulen zu verbieten. Auch Innenminister Otto Schily scheint zu glauben, dass Neonazis Gewalttaten abstellen, wenn sie ihr Outfit ändern.

Und nun kommt jemand wie Kramer und sagt, dass Aussehen nicht immer für Gesinnung steht. Der fordert, mit rechten Jugendlichen zu arbeiten, statt Diskussionen in Hochglanzbroschüren "Tolerantes Brandenburg" münden zu lassen. Der weiß, wie sinnlos es ist, weiße Schnürsenkel zu verbieten, weil die Rechten längst blutrote tragen, seit das Musiklabel "Blood & Honour" verboten wurde. Der es schafft, an rechte und linke Jugendliche heranzukommen und mit ihnen über Gewalt zu diskutieren. Der in ihren Köpfen etwas bewegt.

Kramer geht seinen Weg. Vielleicht funktioniert sein Kampf. Wenn er nachts einem Skinhead begegnete, sagt Kramer, würde auch er die Straßenseite wechseln. Weil er in so einem Moment nicht wüsste, wer ihm gegenübersteht.

Annett Heide/ Berliner Zeitung